Der liebe Gott ist fassungslos
Etliche sitzungsgenervte Abgeordnete seufzten es in Brüssel nach der Geburt der ersten Europäischen Verfassung, andere stöhnten es, wieder andere dachten es nur: ,,Gott sei Dank!" Weil die Geburt unserer neuen Super-Verfassung eben Kaiserschnitt-Saugglocken – und Zangengeburt gleichzeitig war. Unter den Gott anstöhnenden Abgeordneten sollen sogar welche gewesen sein, die mit Gott nichts mehr am Hut hatten.
Dabei ist der liebe Gott gar nicht mehr in der Verfassung erwähnt. Ob das so bleibt? Der Papst ist darüber schon traurig und ängstet sich ein Europa ohne Gottesbezug. Einige christliche EU-Länderregierungen diskutieren bereits, denn die Verfassung muss noch mal in den Ländern verfasst werden.
Nur - auf welchen Gott sollte sich bezogen werden? Auf den christlichen der Dreieinigkeit? Oder den Gott, der via Christentum zweifellos unseren Kulturkreis am allermeisten prägte? Inklusive heutigem Strafrecht, das auf den zehn Geboten basiert? Oder ist es der liebe Gott, wie Heinrich Böll ihn in seiner Kritik am faulen Christentum als „Jenes Höhere Wesen, das wir verehren" umschreibt?
Moslems und andere Religionsangehörige als Mitbürger wären auch kein Hindernis für einen Gottesbezug in der Verfassung: Schließlich ist unser Gott auch der des Islam. Wir selber sind uns da in Deutschland das Hindernis. Denn an wie vielen öffentlichen Orten, in wie vielen Gruppen, Gremien, Parlamenten spielt der liebe Gott noch eine - öffentliche – Rolle? Keine dieser Diskussionen greift. Denn eine Verfassung ist keine Bibel zur Beschreibung unserer Werte und Normen. Eine Verfassung ist ,,ein Katalog von Rechten und Pflichten der Verfassungssubjekte" (Martin Mosbach). Proklamationen für wen auch immer sind da fehlplatziert.
Ich selbst hätte den lieben Gott schon ganz gerne in der Verfassung. Aber aus folgendem Grund: Um zu verhindern, dass die Europäischen Regierungen noch hybrider werden, noch größenwahnsinniger, noch narzisstisch gestörter. Denn unsere früheren Verfassungen hatten den Gottesbezug als Ausdruck der Erkenntnis der Regierungen dafür, sehr wohl zu wissen: Was wir machen ist nie perfekt. Ist nie ganz heilsam. Ist von vornherein Einzelteilsammlung, nie das Ganzheitliche.
Das ,,Gottesgnadentum“ aller unserer christlicher Könige vom frühen Mittelalter an bis ins letzte Jahrhundert „Kaiser, König, Herzog von Gottes Gnaden"...) war weniger Ausdruck der Selbstherrlichkeit, der Selbstüberhöhung, gar Ausdruck der Verwandtschaft des blauen Blutes mit dem göttlichen Blut. Es war Ausdruck des Bewusstseins, unvollkommen zu sein. Ausdruck des Herrschers als erster Diener seines Volkes. Eben nicht von eigenen Gnaden.
Diese Selbstsicht fehlt mir in der EU. Stöhnen, ächzen, seufzen werden unsere Regierungen und Abgeordnete weiterhin: ,,Gott o Gott!" (wenn sie die Fassung verlieren) oder Gott sei Dank!" (wenn sie die Fassung wiederfinden). Gott selbst bleibt wohl (ver-)fassungs-los. Also überall.
29.06.2004